Jildaz Migot macht die Welt sichtbar, indem er die Dinge, die sie enthält, dem Betrachter entdeckt. Die Welt dieses Künstlers ist eine Welt der Wunder. Geduldig, ruhig, keine Zeit und keine Mühe scheuend, setzt er immer wieder von Neuen an, ein Ding zu zeichnen, und so auf es zu zeigen, es zu bezeichnen. Er weiß um die phänomenlogische Kraft, die es kostet, ein Ding in all seiner wahren Beschaffenheit sichtbar zu machen. Im Althochdeutschen bedeutete das Wort zeihhanen, von dem die heutige Wortform zeichnen sich ableitet, nicht nur ‚etwas kennzeichnen, anzeigen oder bezeichnen‘. Es meinte ebenfalls ‚Wunder tun‘. Die nominale Form Zeichen war nicht bloß ein sinnlich wahrnehmbares Symbol mit festgelegtem Platz im semiotischen System, – nein, es war einstmals jenes ‚Wunder‘, an das die althochdeutsche Wortbedeutung erinnert. Ein Mensch, der zeichnete, besaß demnach die Macht, Wunder zu tätigen, so dass man später im Mittelhochdeutschen mit zeichenære einen ‚Wundertäter‘ meinte, einen Beruf also, den es heute nicht mehr gibt. Im 16. Jahrhundert, mit dem Beginn der Neuzeit, erhielt der Beruf des Zeichners eine rein technische Bedeutung: Der zeichenære, der Wundertäter, ward zum Zeichner, also zu jemandem, der die Kunst beherrscht, die Welt mit dem Stift, ohne Farbe und mit wenigen Strichen in einer Zeichnung wiedererkennbar zu machen. Seither illustrieren die Zeichner die Welt, die sie glauben zu kennen. Migot aber entdeckt sie als eine uns fremde Welt und setzt uns in Erstaunen. Migots Zeichnungen gehen über jenen neuzeitlichen, rein technisch, handwerklichen Begriff hinaus, sie sind Wunder, weil sie uns in Erstaunen über die Welt und ihre Dinge versetzen. Weder kopiert er, noch ahmt er die Formen nach, die ihm die Welt bietet, auch schafft er sie nicht neu. Allein sichtbar wird die Welt in seinen Strichen, wie sie ist und doch im Alltag nie gesehen wird. Was sieht man? Eine rote Wolke, deren Farbe in der Zeichnung nicht wahrnehmbar ist, sondern mittels der Schrift der Zeichnung zugewiesen wird, eine Katze, die als Handtasche am Haken hängt, eine Sammlung verschiedener Tiere, darunter der Vogel Strauß, ein Sportschuh, eine Häuserfassade. Die Einheit der disparaten Motive liegt in deren Wiederholbarkeit begründet. Die Ausstellung, die notgedrungen nur eine begrenzte Auswahl der Werke des Künstlers uns zeigen kann, übersieht den seriellen Status jedes Bildes und jeder Zeichnung. Um die phänomenologische Kraft zu erkennen, die jenen ‚roten Wolken‘ inne wohnt, müsste man alle entstandenen Werke, die diesen Titel tragen, nebeneinander sehen. Es gibt die ‚rote Wolke‘ erst in der Vielzahl ihrer vom Künstler uns gezeigten Realisierungen. Das serielle Prinzip ist manchen Bildern förmlich eingeschrieben, wenn etwa in den Bestiarien verschiedene Exemplare einer Gattung, dasselbe Tier in unterschiedlichen Posen und Perspektiven oder aber der Gang einer Ente in vier Stadien in einer Zeichnung vereint sind. Migot will nicht einfach eine Ente, einen Bären, ein Haus, eine Schleuse oder eben jene rote Wolke abbilden, sondern sie entdecken. Wir sind eingeladen, ihm dabei zu folgen. Die Wahl des Gegenstandes, der gezeichnet werden soll, erfolgt aus dem für uns kaum nachvollziehbaren Ineinander von poetischer Imagination – denn Migot ist immer auch ein Dichter –, biographischer Wenden und der aus ihnen folgenden Entdeckung neuer Orte, die für Jildaz Migot zunächst einmal mit den Namen von Städten verbunden sind: Bordeaux, Berlin, Paris. Den so genannten ‚ethnologischen Blick‘ auf die Dinge, der diese in ihrer ursprünglichen Fremdheit (jede Lebenswelt ist zunächst eine fremde Lebenswelt) wahrnimmt, behält der echte Künstler auf ewig. Dieser Blick unterscheidet ihn vom lobpreisenden Sprecher der eigenen Verhältnisse, zu dem sich viele Künstler erniedrigt haben. Er unterscheidet ihn aber auch vom kritischen, entlarvenden Künstler, der, sich politisch erhebend, die Verhältnisse negieren möchte, weil er in ihnen seinen Platz nicht findet. Der Blick, der die Fremdheit alles Seins uns zeigen will, steht nicht im Dienst einer politischen Ideologie, sondern im Dienst der Schöpfung, sei sie nun göttlich oder menschlich, natürlich oder künstlich. In der Klassischen Moderne spaltete sich die Kunst in eine gegenständliche und in eine abstrakte. Dieser Schritt stellte eine Antwort dar auf die Erkenntnis, dass die bildende Kunst eigentlich schon immer darauf hinauslief, Formen der Wirklichkeit mittels Abstraktion vom Gegenstand auf einem Material entweder bloß abzubilden oder in einer höheren, symbolischen Darstellungsabsicht zu transzendieren. Die so genannte ‚abstrakte Malerei‘ kündigte den mimetischen Pakt, der die Malerei seit der Renaissance befugte, Formen der Natur und der Wirklichkeit (zu welchem Zweck auch immer) zu entnehmen, um nur noch mit reinen, geometrischen Formen zu arbeiten. Migot interessiert sich weder für die Reinheit der Formen, noch für die Frage, bis zu welchem Grad Formen der Natur und der Wirklichkeit entnommen werden können. Worum es in seiner Malerei tatsächlich geht, verortet sich jenseits der Opposition von gegenständlich und abstrakt. Seine Zeichnungen sind Mittel im Dienst der Wahrheitsfindung, Ausdruck eines kindlichen Erstaunens vor der Welt. Seine Zeichnungen zeigen auf diese Welt und auf die sie enthaltenden Dinge wie man auf Wunder zeigt, wenn man sie kundtut. Nicht mehr von transzendenten Wundern aber ist bei ihm die Rede, sondern von jenen des immanenten Daseins: von den Dingen der Natur und denen aus Menschenhand.